Pierre Macherey, Sagesse ou ignorance? La question de Spinoza
breng ik in dit blog een informatief interview met Pierre Macherey dat in 2011 verscheen in een special over Spinoza in het Zeitschrift für Ideengeschichte.
Jedes Jahrhundert hat seinen eigenen
Spinoza
Ein Gespräch mit Pierre Macherey
Folgen wir seiner Selbstbeschreibung,
dann müssen wir uns Pierre Macherey als einen Dinosaurier denken – als eines
der letzten Exemplare einer Spezies, die vor langer Zeit einmal die
intellektuelle Welt in Frankreich dominiert hat. Macherey hat sich diesen Status
schon vor fast zwei Jahrzehnten zugeschrieben, als er seiner Kolumne in der
Zeitschrift Futur Antérieur – stolz
und selbstironisch zugleich – den Titel Chronique
du dinosaure gab. Dabei vermag der 1938 in Belfort geborene Philosoph, seit
2003 Professor emeritus an der Université de Lille III, dem philosophischen Diskurs
in Frankreich bis heute Impulse zu geben, so als Spiritus rector und
Kraftzentrum der Arbeitsgruppe La
philosophie au sens large, deren Diskussionen um das Problem der «Praxis»
kreisen und der Philosophie eine neue gesellschaftliche, ja politische Relevanz
verschaffen sollen. Und doch ist die Selbstbeschreibung als Überbleibsel eines
politisch-philosophischen Mesozoikums nicht ganz abwegig. Machereys
akademischer Werdegang ist auf das engste mit einer Epoche der französischen
Philosophie verknüpft, in der ein heute schon wieder antiquiert anmutender
Poststrukturalismus noch in seinen Kinderschuhen steckte und in der ein postmarxistisches
Denken entstand, das mit kaum noch nachvollziehbarem Eifer bemüht war, einem zu
Dogmatismus und Legitimation des Terrors verkommenen Marxismus neues
widerständiges Leben einzuhauchen.
Von 1958 bis 1963 war Macherey Student
an der Ecole Normale Supérieure in
der Rue d’Ulm, wo Georges Canguilhem und Louis Althusser zu seinen Lehrern
gehörten. Dort nahm er auch an jenem inzwischen legendären Seminar teil, das
Althusser von 1962 bis 1963 anbot, um den Strukturalismus, der sich zu dieser
Zeit anschickte, zum zentralen Paradigma der Geisteswissenschaften zu werden,
einer frühen Ideologiekritik zu unterziehen. Wolltesich der Strukturalismus als
Gegenmodell zum überkommenen Humanismus profi lieren, so sahen die
Seminarteilnehmer an der Rue d’Ulm in ihm nichts als neuen Wein in alten
Schläuchen. So sei die ehedem vom «Geist» übernommene Hauptrolle eines Subjekts
und Motors der Geschichte lediglich neu besetzt worden, eben mit jenem fast
mystischen Akteur, den man «Struktur» nannte. Macherey, der seine Maîtrise dem Thema Philosophie et politique chez Spinoza gewidmet hatte und der
zu den Beiträgern jener epochemachenden Neulektüre des Marx’schen Hauptwerks gehörte,
die Althusser unter dem schlichten Titel Lire
le Capital herausgegeben hatte, schien wie kein zweiter geeignet, diesem
residualen Humanismus eine radikal andere politische Philosophie entgegenzusetzen:
einen Marxismus mit spinozistischem Antlitz.
Worum es eigentlich ging, sollte sich
in aller Deutlichkeit in Machereys 1979 erschienenem Werk Hegel ou Spinoza zeigen, das Hegels Spinoza-Rezeption kritisch
beleuchtet. Indem er die Alternative «Hegel oder Spinoza» in den Mittelpunkt
seiner Untersuchung stellt, bringt Macherey zugleich einen spinozistisch
gelesenen Marx gegen einen im durchaus staatspolitischen Sinn des Wortes
«herrschenden» hegelianischen Marxismus in Stellung. Während jene, z. B. mit
dem Namen Lukács verbundene, Richtung die Dialektik des Klassenkampfs betonen
und behaupten musste, dass dieser Konflikt eines schönen Tages in der
klassenlosen Gesellschaft aufgehoben werden würde, sollte dieser spinozistische
Marxismus ganz ohne die Teleologie eines wissenschaftlich erwiesenen ‹Endes der
Geschichte› auskommen und auch den unterschwelligen Humanismus eines Subjekts
als treibender Kraft der Geschichte aus der marxistischen Theorie eskamotieren.
Dem Hegel’schen Dualismus von These und Antithese stellte Macherey die
unendlich vielen Attribute der einen ‹Substanz› entgegen, deren Entwicklung in
totaler Immanenz und Positivität die Geschichte nicht antreibt, sondern ist. Der Hegel’schen Idee einer klaren
und deutlichen Erkennbarkeit der Entwicklungsgesetze der Menschheitsgeschichte
stellte er das Bild einer in ihrer Unendlichkeit opaken, allenfalls annähernd
verstehbaren ‹Substanz› gegenüber, die den menschlichen Geist, die Natur und
die Produktionsverhältnisse gleichermaßen umfasst. In der politischen Praxis würde
ein so konzipierter spinozistischer Marxismus nicht mehr politische Parteien
oder wirtschaftlich bestimmte Klassen als handelnde Subjekte fordern, sondern
jenes offene und durchaus heterogene Netzwerk, wie es zuletzt prominent von
Antonio Negri als ‹Multitude› beschrieben wurde.
Ob in Hinblick auf die politische
Praxis, ob in streng philosophisch-systematischer Lesart oder im Blick auf die
produktiven Missverständnisse einer langen Rezeptionsgeschichte, immer wieder
stand Spinoza im Mittelpunkt von Machereys Arbeit. Von seiner Maîtrise über die bedeutende fünfbändige
Einführung in Spinozas Ethik bis hin
zu der kürzlich vorgelegten Betrachtung der Spinoza-Lektüren Victor Hugos –
kaum ein Autor vermochte so viel zum Verständnis des holländischen Philosophen
beizutragen und diesen zugleich so produktiv in den Diskurs der Gegenwart einzuspielen
wie der quicklebendige Dinosaurier Pierre Macherey.
Jonas
Maatsch
Herr Macherey, wann haben Sie Spinoza zum
ersten Mal gelesen?
Das war in der letzten Klasse des Gymnasiums,
natürlich ohne irgendetwas zu verstehen: Ich erinnere mich an eine ganze
Stunde, in der sich der Lehrer nur mit den beiden letzten Lehrsätzen des
zweiten Teils der Ethica (De mente – Über den Geist) aufhielt, die
er als ein Gewebe von Paralogismen darstellte. Allerdings nahm er sich nicht
die Zeit, den Ausdruck «Willensakte» (lat. volitiones)
zu präzisieren, der jungen Schülern ganz unverständlich sein musste. Später
habe ich die Ethica immer wieder in
die Hand genommen und darauf gehofft, etwas mehr zu verstehen. In den ersten
Semestern an der Universität war ich von Dina Dreyfus und ihren
Lehrveranstaltungen beeindruckt. Sie war die erste Ehefrau von Claude
Lévi-Strauss, die ihn auch bei seinen ersten Reisen nach Brasilien begleitet
hatte, eine unerbittliche und leidenschaftliche Spinozistin, die ihren
Studenten solide, aber vielleicht allzu starre Grundlagen vermittelte. Als es
um die Abschlussarbeit ging, habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und
bin zu Georges Canguilhem gegangen mit der Bitte, bei ihm über «Philosophie und
Politik bei Spinoza» schreiben zu dürfen. Im Nachhinein erscheint das
merkwürdig, aber damals, 1960, war das Thema praktisch unberührt. Jedenfalls in
Frankreich, wo man diesen wesentlichen Aspekt des spinozistischen Werkes
vernachlässigte. Ich hatte das Gefühl, halb unbewusst eine Tür aufgestoßen zu
haben, und dazu hatte mich Canguilhem ermutigt, der selbst kein
Philosophiehistoriker war.[1] Später
habe ich dann mit Begeisterung den Aufschwung der Spinoza-Studien in Frankreich
miterlebt, auf dessen Höhepunkt im Jahr 1968 die Werke von Martial Gueroult,
Gilles Deleuze und François Matheron erschienen.[2] Darin
konnte man einen ganz neuen Spinoza entdecken, der auch nach drei Jahrhunderten
der Auslegung und Kommentierung noch nicht erschöpft war. Gueroult war hier
besonders wichtig, vor allem aus methodischen Gründen: Er brachte einem bei,
dass man Spinoza wirklich Wort für Wort lesen musste, mit allen Einzelheiten
der Argumentation, ohne Auslassung einer Wendung; während man sich zuvor mit
der Herauslösung einiger allgemeiner Vorstellungen begnügt hatte, entkoppelt
von einem Text, der ihnen überhaupt erst Sinn verlieh. Gueroult hat uns
gelehrt, Spinoza im Wortlaut zu lesen, nichts zu übersehen und den Begriffen
und Beweisen ihr eigenes Gewicht wiederzugeben – in dem außerordentlich
komplexen Netzwerk der Ethica, das eher an die Anlage einer Partitur erinnert.
Das war niemals zuvor versucht worden, jedenfalls nicht in dieser
Gründlichkeit. Zur gleichen Zeit, in die Lacans «Rückkehr zu Freud» fiel,
machte sich Louis Althusser daran, Marx neu zu lesen. Diese Atmosphäre war es,
aus der 1979 mein Buch Hegel oder Spinoza und 15 Jahre danach die fünf Bände
meiner Einführung in die Ethica
hervorgingen[3]:
Projekte, die ohne die erwähnten Konstellationen nicht möglich gewesen wären.
Warum kommen wir immer auf Spinoza zurück, in
den vergangenen Jahrhunderten und auch in unserer Gegenwart?
Das liegt zweifelsohne am paradoxen
Charakter seines Denkstils, worin auch seine Einzigartigkeit liegt. Einerseits
wollte Spinoza alles aufklären und die Probleme der natürlichen Realität und
der menschlichen Existenz soweit wie möglich rational behandeln. Andererseits
hat er in der genauen, dichten und komplexen Durchführung eben dieses Programms
einen gedanklichen Gegenstand herausgearbeitet, der rätselhaft erscheint und
bis heute nicht gänzlich ohne Geheimnis ist. Von welcher Seite man auch immer
seine Ethica nimmt: Sie ist ein
unvergleichliches Buch, einmalig in der gesamten Philosophiegeschichte.
Spinozas intellektuelles Ethos bestand darin, einen Text zu verfassen, der sich
in seiner Strenge selbst genügen und daher jegliche Möglichkeit abweichender
Interpretationen ausschließen würde, ganz wie die Elemente von Euklid, die er sich zum Vorbild nahm. Tatsächlich ist aber
das Gegenteil eingetreten. So hat jedes Jahrhundert seinen eigenen Spinoza, der
sich von den anderen unterscheidet: Grob gesagt ist er im 18. Jahrhundert ein
atheistischer Rationalist, im 19. Jahrhundert ein Pantheist und Philosoph des
Lebens und der Kräfte, im 20. Jahrhundert ein Denker der demokratischen
Revolution, mit allen Schwierigkeiten und Zweideutigkeiten des spinozistischen Konzepts
der «Demokratie». Wir sind noch nicht am Ende. Es gibt mit Sicherheit noch
viele andere Spinozas zu entdecken.
Wenn man ihn immer wieder heranzieht,
dann wegen seiner intellektuell stimulierenden Wirkung, welche die Reflexion
auf ein außergewöhnlich intensives Niveau hebt, ihr etwas auf den ersten Blick
Unzugängliches zumutet. Wer Spinoza in der Erwartung liest, darin eine Sammlung
fertiger Rezepte zu fi nden, kann nur enttäuscht werden oder wird alles falsch
verstehen. Spinoza bietet kein vorverdautes Denken, das man dann nur noch zur Kenntnis
zu nehmen hätte, sondern zwingt zum Denken, und zwar zu einem genauen eigenen
Nachdenken unter dem Schock der Begegnung mit einem Text, dessen große Klarheit
ihn undurchdringlich erscheinen lässt; ganz wie die «so seltenen wie schwierigen
Dinge», von denen auf der letzten Seite der Ethica die Rede ist. Diese «Wege
der Ethica», von denen Paolo Cristofolini in seinem Buch spricht,[4] sind
nicht schon vorgezeichnet, sondern müssen von einem jeden selbst auf eigene
Gefahr und Kosten, ohne Garantie und ohne Hoffnung auf allgemeine Billigung
gefunden werden. Darin liegt vermutlich der Grund, warum das Interesse an
Spinoza weit über den engen Kreis der Spezialisten und philosophischen Kenner
hinausgeht und bis zu sehr jungen Leuten reicht, die sich niemals mit
vergleichbar leidenschaftlicher, geradezu wahnwitziger Aufmerksamkeit und ohne
große Vorkenntnisse Autoren wie Descartes oder Kant widmen würden.
Diese ganz eigentümliche Anziehung
(und auch Abstoßung), die vom Werk Spinozas ausgeht, müsste einmal näher
untersucht werden, es scheint jedenfalls niemanden gleichgültig zu lassen. Schon
der «Kreis», in dem Spinoza selbst gearbeitet hat und den K. O. Meinsma
beschreibt,[5]
bestand aus Medizinern und Händlern, die sich nicht aus akademischen, sondern
aus ganz vitalen Interessen heraus mit Philosophie beschäftigten. Auch heute noch
steht ein großer Teil von Spinozas Lesern der universitären Welt und ihren engstirnigen,
vorgeblich gelehrten Fragestellungen fern.
Spinoza gehört gewiss zu den nur
schwer lesbaren Autoren, jedenfalls wenn man sich nicht auf das Skelett einiger
allgemeiner Vorstellungen beschränkt. Diese Schwierigkeit scheint aber nicht abzuschrecken,
sondern vielmehr gerade den Wunsch zu verstärken, in dieses Universum eines
nicht dunklen, sondern durch zu viel Licht geheimnisvoll gewordenen Denkens
einzudringen. Selbst Bertrand Russell, der alle Gründe der Welt hatte, dem
Modell der Rationalität bei Spinoza zu misstrauen, war fasziniert und trug in
seiner Brieftasche ein Porträt Spinozas bei sich.
Spinozas Ethica besteht aus fünf Büchern. In
welcher Reihenfolge sollte man sie lesen?
Mir scheint, dass das von Spinoza Ethica genannte Werk die Ergebnisse seiner
philosophischen Arbeit zusammenfasst, und zwar in der Form eines Ganzen, dessen
Elemente miteinander im Dialog stehen. Das bedeutet freilich nicht, dass sie
sich alle auf gleicher Ebene befänden, was schon deshalb ausgeschlossen ist,
weil sie zu unterschiedlichen Zeiten redigiert wurden. Wenn man sich in diesem
Labyrinth zurechtfi nden will, muss man alles lesen, ohne etwas auszulassen.
Dieses «Ganze» ist von beträchtlicher Komplexität. Auf knapp 200 Seiten findet
sich eine im Umfang bescheidene Summe der Philosophie, in der Spinoza – um es
ganz grob zu skizzieren – eine Onto-Theologie (Erster Teil), eine Erkenntnistheorie
(Zweiter Teil), eine Psychologie (Dritter Teil), eine Theorie der gewöhnlichen
Existenz (Vierter Teil) und schließlich eine «Ethik» im eigentlichen Wortsinne,
d. h. eine Lebenskunst (Fünfter Teil), versammelt hat. Das alles hängt
zusammen, und es wäre unvernünftig, aus dieser Gesamtheit diesen oder jenen
Aspekt herauszuziehen, als ob dieser sich selbst genügen könnte.
Dass alles zusammenhängt, bedeutet nun
aber nicht, dass alles aufeinander folgt, nach dem Modell einer rationalen
Deduktion, die überall auf gleiche Weise abliefe: Die Komplexität des von
Spinoza entwickelten Inhalts entfaltet sich nicht auf einer Ebene, sondern in
einem Raum, auf nicht-lineare Weise. Das geschieht so, dass sich vielfältige
Wege kreuzen und das Netz der Beweise sich aus all diesen Kreuzungen
zusammensetzt, deren Komplexität schwindlig macht. Die dem spinozistischen
Diskurs eigene Schwierigkeit scheint mir in der permanenten Herausforderung des
Lesers zu bestehen, der sich dieser nur stellen kann, indem er seine eigenen
«Schneisen» durch die Ethica schlägt.
Als ich meine fünf Bände der Einführung
in die Ethica zwischen 1993 und 1998 herausgab, begann ich mit dem fünften
Teil. Dann folgte der dritte und darauf der vierte (von diesen beiden kann man
sagen, dass sie aufeinander folgen); schließlich bin ich zum zweiten Teil
zurückgekehrt und habe mit dem ersten Teil abgeschlossen. So habe ich den
gesamten Zyklus durchlaufen. Ich habe aber das Zwingende der Abfolge gelockert
und damit auch die Wirkung der Massivität des Textes. Eine der erstaunlichsten
Besonderheiten im Werk von Spinoza liegt darin, dass sie eine zwingende
Notwendigkeit ausstellt, die gleichwohl ein Feld für die Freiheit öffnet. Ich bin
versucht zu sagen, dass mein Verständnis von Spinoza sich darin zusammenfasst:
Man ist gezwungen, das eigene Nachdenken zu beginnen.
Gibt es denn, wie Gilles Deleuze annimmt,
tatsächlich zwei Textebenen der Ethica?
Deleuze hat mit Recht den Gegensatz
betont, den es zwischen den Lehrsätzen und ihren Beweisen gibt, also einem
Diskurs, der unter dem Anschein des Zwingenden relativ anonym verläuft in einem
ganz anderen, häufig leidenschaftlichen Modus geschieht, der sich nicht
vollständig auf rationale Schemata reduzieren lässt.
Ich selbst möchte gerne drei Ebenen
des Diskurses unterscheiden, drei «Stimmen» in der Ethica, die den drei Erkenntnisweisen entsprechen, die, selbst wenn
sie jeweils anders operieren, doch Erkenntnisformen im vollen Wortsinne
darstellen, einschließlich der Imagination, die Spinoza keineswegs verteufelt.
Es gibt eine erste Stimme, die «wir» sagt, die Stimme des vernünftigen
Übereinkommens, die der zweiten Erkenntnisart entspricht. Es gibt eine Stimme,
die «man» sagt. Sie gehört der Meinung und der Imagination und damit der ersten
Erkenntnisart an, die bei Spinoza nicht völlig umgangen wird, mit der er sich
zumindest auseinandersetzt. Schließlich gibt es die Stimme, die «ich» sagt, die
Stimme der dritten Erkenntnisart, die sich im Prozess der Befreiung artikuliert
und ein Engagement nicht nur theoretischer, sondern praktischer Art darstellt.
Alle diese Stimmen sagen letztlich dasselbe, wenn auch auf verschiedene Weise.
Es ist ihre Kreuzung, aus der die «Musik» der Ethica entsteht. Im Übrigen kennen wir – nach Spinoza – unendlich
viele Attribute nicht, und so gibt es vielleicht eine Unendlichkeit anderer
Stimmen, die wir nicht hören, die Spinozas Text aber mit anklingen lässt.
Mir scheint bei Spinoza die Macht der
Geschichte weitgehend abwesend. Wie kommt es, dass im Denken der 1960er Jahre
seine Philosophie das Ohr von politischen Denkern trotzdem gefunden hat, gerade
auch von Marxisten?
Zweifelsohne ist die Philosophie
Spinozas selber historisch, wie in letzter Instanz alle Philosophie, denn man
sieht nicht recht, wie sie nicht im Einklang mit dem sein kann, was Hegel den Geist
der Zeit nannte. Vielleicht ist Spinozas Philosophie aber noch viel
historischer als alle anderen, aufgrund ihrer einzigartigen Situation im
Holland des 17. Jahrhunderts, diesem außergewöhnlichen Laboratorium einer
ökonomischen, politischen, religiösen, wissenschaftlichen und künstlerischen
Moderne. Eben das ließ sie über ihre unmittelbare Aktualität hinaus auf andere Zeiten
zielen. Spinoza hat eine Art von utopischer Zeitlichkeit gelebt, nicht in den
Grenzen seiner Epoche eingeschlossen. Dazuwurde er vielleicht durch sein
ursprüngliches Marranentum motiviert, das ihn in einem schwankenden
Gleichgewicht zwischen Judenheit und Christenheit hielt, auch zwischen
Tradition und Moderne. Man kann dadurch teilweise erklären, warum er
wiederentdeckt werden konnte und in jedem Jahrhundert unter neuen Gestalten
wiedererfunden wurde, wie sie von der jeweils früheren Epoche aus
unvorhersehbar gewesen wären. Das Auftauchen des politischen Spinoza hat in der
jüngsten Vergangenheit eine Verblüffung hervorgerufen, die immer noch anhält.
Aus diesem Grund hat Louis Althusser sich ganz besonders für Spinoza interessiert.
Althusser ging so weit zu unterstellen, dass man bei Spinoza die in allen
Buchstaben des Werkes von Karl Marx abwesende Philosophie hätte finden können,
also etwas, das in gewisser Weise das Marx’sche Ungedachte konstituierte. Das
war eine gewagte Vermutung, die sich aber als fruchtbar erwies.
Natürlich birgt die einzigartige und
tatsächlich außergewöhnliche Anlage der Ethica
die Gefahr, Spinoza überall hineinzumischen, daraus eine Art
Allerweltsphilosophie zu machen, für die alles und auch das Gegenteil davon
gilt. Es gibt aber in Spinoza eine Kraft und einen Widerstand gegen diese immer
mögliche Ableitung oder Vereinnahmung, welche den abwegigen Auslegungen ein
Ende setzt. Dabei bleibt immer die Möglichkeit einer Pluralität «paralleler»
Lektüren offen, fast in jenem Sinne, in dem man vom «Parallelismus» bei Spinoza
spricht. Am abwegigsten wären Interpretationen, die bei Spinoza alles finden
wollten und ihn im Besitz einer Art von absoluter Wahrheit glaubten – einer Offenbarung
gleich, der man nicht weiter nachzugehen bräuchte.
Ich glaube vielmehr, dass im Gegenteil
das Wesentliche dessen, was man bei Spinoza fi nden kann, dazu führen sollte,
woanders und jenseits davon zu suchen, keine engstirnige Auffassung von
Philosophie zu haben wie die der berufsmäßigen Philosophen, der «Spezialisten».
Ich kann aus eigener Erfahrung berichten, dass ich zwar sehr viel Zeit dem
Studium der Texte von Spinoza gewidmet habe, doch niemals auf den Gedanken
verfallen bin, dass dieser sich selbst genügen könnte und also Gegenstand einer
reinen und unbeteiligten Lektüre sein sollte. Ich selbst habe mich anderswo
umgesehen, in den Humanwissenschaften, in der Li teratur und in der Politik,
und diese Anstrengung hat meiner spinozistischen Kultur in keiner Weise
widersprochen, sondern sie im Gegenteil bestärkt.
Wie kann man mit Spinoza philosophieren lernen?
Worin liegt bei Spinoza der befreiende Charakter?
Mehr als bei jedem anderen Philosophen
kann man bei Spinoza lernen, dass die Philosophie nicht nur aus reiner,
abstrakter und unbeteiligter Spekulation besteht, gleichsam als Theorie, die
vom Leben und von praktischen Erfordernissen abgetrennt wäre. Keineswegs zufällig
hat Spinoza – und dies war zu seiner Zeit ungewöhnlich und innovativ – sein
Werk, in dem er das Wesentliche seiner Meditationen über die Probleme der
Philosophie versammelt hatte, Ethica betitelt. Er knüpfte damit über die Zeiten
hinweg an die Praxis der antiken Denker an. Zwar bleibt sein erstes Ziel die
Rationalität, allerdings im Sinne einer Rationalität, die nicht allein Lehre
und Doktrin ist, und folglich nicht allein Angelegenheit der Theorie. Mit
Spinoza lernt man denken, indem man gleichzeitig die Wahrheit und die Freiheit
erstrebt. Dabei verlangen beide Ziele unterschiedlichen Einsatz, für den man
sich angemessen ausrüsten muss, im Handeln und in der Lebensform, indem man aus
der Eroberung der Wahrheit ein Mittel macht, um im Prozess der Befreiung weiter
voranzukommen. In dieser Hinsicht ist die Philosophie eine eigene Erfahrung,
ein Verhältnis zur Welt und, genauer noch, eine bestimmte Weise, auf der Welt
zu sein, die nicht auf die professionelle Haltung hinausliefe, im – wie Pierre
Bourdieu sagen würde – philosophischen Feld Position zu beziehen. Im Gegenteil:
Wenn es ein solches philosophisches Feld gibt, dann lädt Spinoza dazu ein,
dessen Grenzen zu überschreiten.
Eben darin ist er kein Philosoph wie jeder
andere. Kann man in Spinoza das Modell einer Philosophie erkennen, die sich
nicht erst in politische Programme übersetzen lassen muss?
Spinoza gibt uns keine fertigen Ideen
und auch keine Patentrezepte in die Hand, noch viel weniger eine Lehre mit fest
umrissenen Konturen. Er motiviert uns zu denken, und zwar aktiv, durch uns
selbst. In diesem Sinn ist er nicht einholbar.
Das Gespräch führte und übersetzte
Ulrich Johannes Schneider.
Colofon
“Jedes Jahrhundert hat seinen eigenen
Spinoza: Ein Gespräch mit Pierre Macherey.” In: Zeitschrift für Ideengeschichte, V, 1 (2011) [Themenheft
'Spinoza'], 5-14 [PDF]
[1] Pierre
Macherey: De Canguilhem à Foucault. La force des normes, Paris 2009.
[2] Martial
Gueroult: Spinoza, 2 Bände, Olms 1969, 1974; Gilles Deleuze: Spinoza und das
Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München 1993; Alexandre Matheron:
Individu et communauté chez Spinoza, Paris 1969.
[3] Pierre
Macherey: Hegel ou Spinoza, Paris 1979; Introduction à l’Éthique de Spinoza, 5
Bände, Paris 1994–1998.
[4] Paolo
Cristofolini: Spinoza. Chemins dans l’ «Ethique», Paris 1996.
[5] K. O.
Meinsma: Spinoza und sein Kreis, Berlin 1909.
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