zaterdag 5 augustus 2017

Metellus Meyer promoveerde op Spinoza’s deugdenleer

In het slothoofdstuk van zijn dissertatie geeft Metellus Meyer zijn samenvatting en kritiek op Spinoza’s ethische leer. Over die Metelllus Meyer is - hoe ik het ook probeer - verder niets te vinden. Wel wordt zijn boekje nog in bibliotheken bewaard en zijn gedigitaliseerde microfiches bij archive.org te vinden. Net dit jaar heeft ReInk Books het in herdruk genomen en aangeboden [cf.]

Metellus Meyer, Die Tugendlehre Spinoza's. Dissertation Universität Leipzig. Flensburg: J.B. Meyer, 1885 - 81 pagina's – archive.org - Hathitrust.org




























Ik neem zijn evaluatie hier over, daar het een uitdaging is te proberen zijn redenering te volgen en zo mogelijk mee te voltrekken. Hij legt de vinger op een paar moeilijke punten waar vaker mee geworsteld is. Meyer heeft echter ook duidelijk waardering voor Spinoza.

 

[73] Kritik.

Die Kritik der Tugendlehre Sp.'s, die wir hier zu geben versuchen, wird sich darauf zu beschränken haben, die elementaren Widersprüche, in welche die Tugendlehre mit ihren eigenen Voraussetzungen und Behauptungen zu geraten scheint, aufzudecken.

Die Tugend, die Sp. lehrt, in Widerspruch mit dem Selbsterhaltungstrieb als ihrem Ursprung.

Kehren wir mit Sp. bis dahin zurück, wo er uns die gemeinsame Geburtsstätte der Tugend oder der handelnden Affekte und der Leidenschaften gezeigt hat „Denn man muss vor allem festhalten, dass es ein und dasselbe Begehren ist, wonach der Mensch sowohl als handelnd wie als leidend gilt.” [1] Dieses Begehren ist, wie wir wissen, das Begehren, sich selbst zu erhalten, der Selbsterhaltungstrieb; er ist die Quelle alles Handelns und alles Leidens. Wir wissen nun ferner, dass in dem Streben jedes Dinges, in seinem Sein zu verharren, das Wesen des Dinges selbst liegt.[2] Ist also das Wesen eines Dinges frei und uneingeengt oder wird es nur beeinflusst von solchen Dingen, die mit seiner Natur übereinstimmen, so ist auch sein Beharrungsbegehren frei und [71] uneingeengt; nur ein freies Wesen kann einen freien Selbsterhaltungstrieb haben. Wird aber das Wesen eines Dinges bedrängt und beeinflusst von äusseren fremden Ursachen, so ist auch das Beharrungsbegehren dieses Wesens bedrängt und beeinflusst; daraus folgt, dass ein unfreies und beschränktes Wesen nur einen unfreien und beschränkten Selbsterhaltungstrieb haben kann. Wie es freilich überhaupt zu einer gegenseitigen Einschränkung der Dinge und so zum beschränkten Selbsterhaltungs-trieb kommt, wenn doch jedes Ding ursprünglich nur in seinem eigenen Sein zu beharren strebt, das hat uns Sp. nicht erklärt: es ist das ewige Rätsel vom Sündenfall, von der Existenz des Irrtums, des Bösen und des Elends in der Welt, da ja bei Sp. das gegenseitige Beeinflussen der Dinge die Ursache alles Wahns und alles Leids und alles Bösen ist. Und wenn er den Wahn und alles, was ihm anhaftet, selbst für Wahn, für etwas, was in Wahrheit nicht existirt, hält, so hebt er damit, wie wir später noch genauer darlegen werden, die ganze Welt der Wirklichkeit und zugleich seine eigene ganze Philosophie auf. Es ist nun an und für sich klar, dass die Tugend, die ja ein Handeln ist und die Macht des Menschen ausdrückt, nur aus dem freien Selbsterhaltungstriebe hervorgehen kann; denn aus dem unfreien und beschränkten Selbsterhaltungstrieb kann immer nur ein Leiden entspringen. Nun aber ist die Tugend als Macht des Menschen zu handeln nach der Lehre der Ethik stets mit dem Affekt der Freude, mit einem Übergang von geringerer zu grösserer Vollkommenheit verbunden; die Tugend bezeichnet hiernach also eine immerwährende Wesenserhöhung. Als solche aber lässt sie sich niemals mit dem freien Selbsterhaltungstrieb vereinigen, da die Tugend, die aus ihm hervorgeht, gerade darin besteht, dass das Ding in seinem freien Sein und Wesen beharrt. Sp. ist sich selbst dieses Konfliktes zwischen der Tugend als Macht zu handeln und als Wesenserhöhung einerseits und der Bewahrung seines Seins und der höchsten Vollkommenheit andererseits wenigstens bei Gott einigermassen bewusst geworden, wenn er meint, im eigentlichen Sinne könne man nicht von Gott sagen, er liebe die Menschen oder sich selbst und freue sich seiner Vollkommenheit, weil Gott nicht vollkommener werden [72] könne, als er schon sei. Und wenn er dennoch später mit so hoher Begeisterung von der Liebe Gottes spricht, so müssen wir gestehen, dass hier nicht mehr die klare Sonne des Denkens das stolze Gebäude der Etliik durchstrahlt, sondern geheimnisvoll mystische Dunkelheit in seinen innersten und heiligsten Räumen webt.
Die Annahme aber, dass die Tugend insofern den freien Selbsterhaltungstrieb zur Quelle haben könne, als der von der Macht der Aussendinge bedrängte und den Leidenschaften unterworfene Mensch, um zur Tugend zu gelangen, nur seinem wahren Wesen zu folgen und nur dies wiederherzustellen brauche, bleibt schon deshalb ausgeschlossen, weil nach unseren obigen Auseinandersetzungen ein beschränktes und leidendes Wesen nie einen freien und unbeschränkten Selbsterhaltungstrieb haben kann. Aber auch angenommen, ein anderer könnte ihm sein wahres Wesen zeigen und so seinen Selbsterhaltungstrieb auf die Gewinnung seines wahren Wesens hinlenken, so wäre doch das Wirken dieses Wesens noch keine Tugend und kein Handeln, sondern, da es ja nach der Annahme unfrei und bedrängt ist, ein Leiden; hier also würde das Wesen wohl den — ihm von einem anderen oitenl)arten — Gesetzen des Selbst- erhaltungstriebes folgen, aber es hätte als leidendes Wesen doch noch keine Tugend. Sobald aber der Punkt erreicht wäre, wo das Wesen seine volle Macht und Tugend erlangt und seine wahre Natur selbst erkannt hätte, so würde es von jetzt an wohl handelnd sein können, aber sein Handeln Hesse sich, wie wir gesehen haben, nicht mit dem Selbsterhaltungstrieb als dem Grund aller Tugend vereinigen.

So müssen wir denn gestehen, dass die Tugend als Macht des Menschen zu handeln, die den Selbsterhaltungstrieb zum Ursprung hat, uns unmöglich scheint; sie ist, konsequent verfahren, ein toter Punkt, vor dem und hinter dem sich das ganze Leben des Menschen in der Zeit und in der Ewigkeit abspielen muss, ohne dass er jemals dauernd der Tugend teilhaftig werden könnte.

Die Tugend, die Sp. lehrt, im Widerspruch mit der Erkenntnis als ihrem Prinzip; Keim dieses Widerspruches in der Erkenntnis selbst.

Die Vernunft und die aus ihr folgende Erkenntnis ist die eigentliche Herrscherin im Reiche der spinozischen Tugend; sie giebt der Tugend, die Sp. uns lehrt, die wirklich grossartige Majestät, die wir an ihr bewundern. Denn einmal macht die Erkenntnis, die Tugend heraushebend aus dem engen Kreise der Menschen, dieselbe zur Bürgerin des ganzen Reiches der Natur und ordnet sie damit deren Gesetzen, der ewigen Notwendigkeit unter, mit der alles, was ist und geschieht, aus Gottes Wesen folgt. Ferner aber entrückt die Erkenntnis sie dem Banne der Zeit — denn für die Erkenntnis ist ja die Zeit nur ein Gebilde der Imagination — und umgiebt sie schon auf Erden mit dem Glanze der Ewigkeit. Diesen doppelten Charakter der Notwendigkeit und der Ewigkeit darf also die Tugend, welche die Ethik lehrt, nie verletzen, wenn nicht zugleich damit die Stellung der Vernunfterkenntnis als Princips der Tugend erschüttert werden soll. Wie verhält sich nun die Tugendlehre Sp.'s zu dieser Forderung?
Was das Verhältnis der Tugend zu der Erkenntnis der Notwendigkeit alles Seins und Geschehens betrifft, so haben wir gesehen, wie Sp. die Imaginationsvorstellungen, die nach seiner Lehre der wahren Erkenntnis zuwiderlaufen, die Vorstellungen der Freiheit, des Zweckes, des Guten und Schlechten u. a. mit ausdrücklichen Worten aus dem Reiche der Erkenntnis und Tugend verweist und wiederholt erklärt, dass die Menschen, wenn sie frei, d. h. tugendhaft, wären, diese Begriffe nie ge-bildet hätten. Um so wunderbarer muss es uns erscheinen, wenn Sp. gleich darauf jenes Musterbild des Menschen und damit den Begriff des Zweckes und die Begriffe von gut und schlecht ausdrücklich in seine Tugendlehre einführt, ja sogar sie zu grundlegenden für seine Lehre macht. Wie konnte er diese Begriffe für Wahngebilde erklären und fast im selben Satze noch [3] [74] sie an die Spitze seiner von der Vernunfterkenntnis beherrschten Tugendlehre stellen? Wird damit nicht die Tugend aus ihrer eben gewonnenen Stellung im Reiche der ganzen Natur wieder in den engen Kreis der Menschen hinabgezogen? Wir müssen bekennen, dass Sp. sich eines gröberen Widerspruchs kaum schuldig machen konnte. Sind die genannten Begriffe wirklich imaginäre, so muss uns die Stellung der Vernunfterkenntnis als Princips der Tugend durchaus unmöglich scheinen oder Sp.'s ganze Tugendlehre in sich zusammenfallen.

Um nur ein Beispiel herauszugreifen, wenn Sp. sagt, „die Traurigkeit sei etwas Schlechtes" [4], so macht er sich, wenn er diesen Satz ausspricht, gerade dessen schuldig, was er in diesem Setze als Verletzung der Tugend hinstellt. Denn Traurigkeit bei dem, der die Erkenntnis besitzt, soll unmöglich sein; Traurigkeit aber bei anderen, welche die Erkenntnis nicht besitzen, darf der, welcher die Erkenntnis besitzt, nie für schlecht, sondern nur für notwendig und als in bezug auf das Ganze überhaupt nicht existierend halten. Denn so weit er sie für schlecht hält, folgt er der Imagination und unterliegt gerade dem Affekte, den er bei anderen als Verletzung der Tugend tadelt; denn die Erkenntnis des Schlechten ist nichts als die Vorstellung der Traurigkeit, die aus dem Affekt der Traurigkeit notwendig folgt. — Der Einwurf, der Begriff des Schlechten sei nur als Gegenstück, gleichsam als Schattenbild, zu dem Lichtbild des Guten entstanden, ist deshalb wirkungslos, weil der Begriff des Guten als Wechselbegriff zu dem des Schlechten selbst ein durchaus imaginärer ist.

Aber sind die Begriffe des Schlechten und Guten und alle sie begleitenden Vorstellungen wirklich imaginäre, und existiert für den, der die Vernunfterkenntnis hat, in Wahrheit weder Schlechtes noch Gutes? — Es handelt sich darum, ob es wirklich eine Imagination im Gegensatz zur Vernunfterkenntnis giebt: denn ist dies der Fall, so giebt es wirklich etwas Unvollkomkommenes — denn die Imagination ist ja eine unvollkommene Erkenntnis — im Gegensatz zum Vollkommenen, etwas Schlechtes im Gegensatz zum Guten u. s. w. [75]

Nach Sp.'s Lehre bezeichnet nun die Imagination nur ein Nichtseiendes an einem einzelnen Wesen, wodurch die Vollkommenheit und Realität des Ganzen nicht im geringsten gemindert oder geändert wird. Da aber die Vernunfterkenntnis alles nur in bezug auf das Ganze im Lichte der ewigen Notwendigkeit betrachtet, so giebt es für sie nach Sp.'s Lehre auch keinen Wahn, keine Imagination. Der Begriff der Imagination ist also selbst ein imaginärer, der in bezug auf Gott und den Menschen, der die Vernunfterkenntnis hat, nicht existiert.

Dass hiermit die ganze Welt der Wirklichkeit, die Welt des Irrtums, der Sünde und des Elends, in ein Traumgebilde aufgelöst wird, ist an sich klar ; aber auch die Philosophie Sp.'s selbst, die den Begriff der Imagination in ihrem System doch als Erkenntnisbegriff behandelt — wenn sie z. B die ganze Erkenntnis in die drei Erkenntnisarten der Imagination, der schliessenden und der anschauenden Vernunft teilt —auch sie muss bei dieser Auffassung der Imagination in sich zusammenfallen.

Der Irrtum Sp.'s liegt darin, dass er die Vernunft nicht in ihrer Doppelstellung erkannte: einmal als diejenige, die den ganzen Kausalnexus sich vorstellt und zu der als betrachtendem Subjekt alle Dinge als betrachtete Objekte in Beziehung treten müssen, und zweitens als diejenige, die selbst ein Glied in der Kette des Kausalnexus und selbst betrachtetes Objekt ist. Insofern nun die Vernunft oder ein Vernunftwesen betrachtetes Objekt ist, wird ein Minus, eine Negation an ihm allerdings ausgeglichen durch ein Plus in der übrigen Natur, und für den, der alles nur in bezug auf das Ganze, auf Gott nach der Vernunfterkenntnis erkennen könnte, existierte eine Negation — da diese ja nur an dem einzelnen Wesen haftet — nicht. Insofern aber an der Vernunft als betrachtendem Subjekt eine Negation, ein Nichtseiendes, wie es sich nach Sp.'s Lehre in der Imagination ausdrückt, ist, so ist eben dies Nichtseiende eine wirkliche Verminderung der Vernunft, und man kann hier nicht sagen, dass das Nichtseiende in bezug auf das Ganze, wie die Vernunft es betrachte, nicht sei, weil die dem Ganzen als Subjekt gegenüberstehende und alle Dinge auf sich beziehende Vernunft selbst es ist, an der das Nichtseiende ist. Und sofern  [76]-es wirklich etwas Nichtseiendes an der Vernunft giebt, so giebt es auch wirklich eine unvollkommene Vernunft, eine Imagination, im Gegensatze zu einer vollkommenen Vernunft, einer wahren Erkenntnis, daher auch wirklich einen Zweck, aus der unvollkommenen zu der vollkommenen Erkenntnis zu gelangen, und ebenso Dinge, die wirklich gut sind — insofern sie unsere Erkenntnis und damit unsere Tugend fördern — und solche, die wirklich schlecht sind — insofern sie die Imagination hervorrufen und uns an der Tugend hindern. — Es ist unmöglich, dass die Vernunft die Dinge in bezug auf das Ganze betrachtet, ohne dass sie sie zugleich in bezug auf sich selbst betrachtet und in solche scheidet, die sie an der Betrachtung des Ganzen hindern und in solche, die diese Betrachtung fördern, d. h. in wirklich schlechte und wirklich gute.

So stehen die genannten Begriffe, die Begriffe des Guten und Schlechten, des Zwecks und damit die Vorstellung der Freiheit als Vernunftbegriffe dem Vernunftbegriff der Notwendigkeit gegenüber und tragen in das Princip der Tugend, in die Vernunfterkenntnis selbst einen Zwiespalt hinein, dessen Ausgleichung wir bei Sp. vergebens suchen; daher auch das ungewisse Schwanken der Tugend, welche die Ethik uns lehrt, zwischen ihrem rein menschlichen Charakter und dem Charakter, den sie als Bürgerin des ganzen Reiches der Natur trägt.

Nicht weniger unmöglich und unerklärt muss uns der Charakter der Ewigkeit der Tugend in der Lehre Sp.'s neben ihrer zeitlichen Entwicklung erscheinen. Denn die Tugend als Macht des Menschen zu handeln und als Freude besteht ja in einer immerwährenden Wesenserhöhung, also in einer immer-währenden Entwicklung; ja, ohne dass sich Körper und Geist der Kindheit allmählich entwickelten und ausreiften, wäre überhaupt keine Tugend möglich. Der Begriff der Entwicklung lässt sich nun nicht trennen von dem Begriffe der Zeit und Dauer: diese aber sind nach Sp.'s Lehre Gebilde der Imagination und mit dem Princip der Tugend, der Vernunfterkenntnis, die alles im Lichte der Ewigkeit schaut, unverträglich. Denn die Ewigkeit ist, wie Sp. oft genug wiederholt, nicht etwa die Summe [77] unendlich vieler Zeiten, sondern sie hat überhaupt nichts mit der Zeit und allem, woran die Zeit haftet, zu thun.

Indessen, während der Erkenntnisbegriff der Notwendigkeit in der Tugendlehre fast ganz durch die nach Sp.'s Ansicht imaginären Begriffe der Freiheit, des Zwecks, des Guten und Schlechten verdunkelt wird, ist es hier der Erkenntnisbegriff der Ewigkeit, der seinerseits den Charakter der Tugend als Entwicklung nicht zum Ausdruck kommen lässt, Daher hat uns Sp. auch nicht zu zeigen vermocht, wie wir allmählich uns von den Leidenschaften befreien und die Tugend erlangen können; denn wenn er uns als einzigen Weg, der zur Tugend führe, die Betrachtung der allgemeinen Eigenschaften der Dinge bezeichnet, so setzt er voraus, dass wir das schon besitzen, was wir erst erlangen wollen. Denn zu der Betrachtung der allgemeinen Eigenschaften der Dinge wendet sich nur der, der im Besitze der zweiten Erkenntnisart ist; wer aber diese besitzt, besitzt die Tugend. Zwar scheint der unaufhörliche Kampf zwischen den Tugendaffekten und den Leidenschaften und das ewige Streben, das selbst in der dritten Erkenntnisart liegen soll, das Princip der Entwicklung wieder zum Durchbruch kommen zu lassen, doch wir haben schon bei der Besprechung des Selbsterhaltungstriebes als des Ursprungs der Tugend gesehen, wie dieses Streben und Kämpfen keine Tugend sein kann; jetzt werden wir erkennen müssen, dass es überhaupt, so weit es eine Entwicklung bezeichnet, sich nicht mit der ewigen Vollendung, die der aus der Vernunfterkenntnis stammende Charakter der spinozischen Tugend ist, vereinigen lässt, und dass dieses Kämpfen und Streben mit der Voraussetzung eines unüberwindlichen Restes von Leidenschaften als ein Zugeständnis Sp.'s an die Erfahrung angesehen werden muss, dessen Begründung in seiner Lehre durchaus fehlt, ja das seinem ganzen auf die absolute Erkenntnisfähigkeit des Menschen gegründeten System zuwiderläuft. Denn sind wir auch notwendig dem Einfluss der Aussendinge ausgesetzt, so brauchten wir deshalb doch nicht notwendig dem Einfluss der Leidenschaften zu unterliegen, weil wir die schädliche Wirkung des Einflusses der Aussendinge, wie sie sich in den Leidenschatten zeigt, durch die Erkenntnis, wenn die Fähig [78]keit des Menschen zu erkennen wirklich eine absolute ist, bis auf den letzten Rest aufheben und zum Vorteil für unsere Macht verwerten könnten. Wenn Sp. trotzdem wiederholt behauptet, dass wir nie ganz uns von dem Einfluss der Leidenschaften befreien könnten und "notwendig immer (necessario semper)[5] von Leidenschaften beherrscht würden, so ist das ein Stoss, den er selbst gegen die von ihm als absolut anerkannte im Menschen wohnende Verunufterkenntnis führt, im letzten Grunde ein völliger Bruch mit seinem ganzen System. Denn sind wir notwendig immer von Leidenschaften beherrscht, so sind wir auch notwendig immer vom Wahn, von der Imagination beherrscht; eine Philosophie, die zu ihrem Fundament die reine Erkenntnis bat, wie die Sp.'s, ist dann unmöglich.

Um jedoch zu verstehen, wie Sp. diesen Konflikt zwischen zeitlicher Entwicklung und ewiger Vollendung in seiner Tugendlehre fast ganz übersehen oder doch über ihn mit wenigen und eigentlich nichtssagenden Worten hinweggehen konnte [6], dürfen wir nicht ausser Acht lassen, dass der spinozische Begriff der Entwicklung sich nicht mit dein gewöhnlichen deckt. Denn in dem Begriff der Entwicklung, wie er gewöhnlich gefasst wird, liegt der Erwerb einer positiven neuen Kraft oder Fähigkeit zu der alten, der spinozische aber bezeichnet nur negativ das Weg-fallen einer alten Schranke von dem vollkommenen Wesen des Menschen; bei jenem ist das Wesen unvollkommen und wird vollkommener, bei diesem ist es an sich vollkommen und nur beschränkt von äusseren Dingen: das Wegfallen dieser Schranken, dieser negative Process am Wesen des Menschen ist das, was Sp. unter Entwicklung versteht.

Ist nun der Begriff der Entwickelung, wie Sp. ihn fasst, wirklich ein imaginärer? — Der von den Schranken umgebene Mensch erkennt allerdings --- das müssen wir einräumen — nur imaginär; die Erkenntnis aber, dass er von diesen Schranken umgeben ist und dass von verschiedenen Menschen der eine mehr, der andere weniger, und derselbe Mensch zu verschiedenen Zeiten verschieden stark von diesen Schranken eingeengt ist, [79] dass also eine Entwickelung stattfindet, diese Erkenntnis gehört doch ins Reich der Vernunft; es müsste denn die Erkenntnis, dass es überhaupt eine Imagination im Gegensatz zur Vernunfterkenntnis giebt, selbst eine imaginäre sein, was, wie wir sahen, unmöglich ist.

So liegt auch hier der Zwiespalt zwischen der Tugend als zeitlicher Entwicklung und ihrem Princip als der Erkenntnis der ewigen Vollendung als Keim in dem Princip der Tugend, in der Vernunfterkenntnis selbst, verborgen; denn es ist nach unseren Ausführungen der Begriff der zeitlichen Entwickelung so gut wie der der ewigen Vollendung ein Vernunftbegriff. Die Kluft, die diese beiden Begriffe in die Vernunfterkenntnis hineinbringen, muss uns aber bei der gänzlichen Verschiedenheit von Zeit und Ewigkeit unüberbrückbar erscheinen.

Und so lange dieser doppelte Widerspruch von Zweck und Freiheit gegenüber der Notwendigkeit, und der Ewigkeit gegen-über der Zeit, wie er im Schosse der Vernunfterkenntnis selbst liegt, nicht gehoben ist, so lange bleibt, ganz abgesehen von dem dem Systeme Sp.'s zuwiderlaufenden Eingeständnis, der Mensch werde notwendig immer von Leidenschaften und damit vom Wahn beherrscht, die Stellung der Erkenntnis wenigstens als alleinigen Princips der Tugend erschüttert; und das gleiche Urteil muss das Streben nach dem eigenen Nutzen als alleiniges praktisches Motiv der Tugend treffen, da es alleiniges Motiv der Tugend nur unter der Bedingung sein kann, dass die Menschen die Fähigkeit des Erkennens voll und widerspruchslos besitzen: denn nur in diesem Fall können sie wirklich ihren wahren Nutzen erkennen.

Endurteil.

Trotz dieser Mängel aber ist die Bedeutung und der Wert der Tugendlehre Sp.'s nicht hoch genug zu schätzen. Denn ob auch durch die Erhebung der Erkenntnis zum Princip der Tugend in die Tugendlehre des Philosophen Widersprüche gebracht sind, deren Lösung bis auf den heutigen Tag nicht gelungen ist, [80] so hat sie doch selbst in diesem Mangel noch das vor vielen anderen Moralsystemen voraus, dass sie uns nicht selbst nötigt, auf die Ergründung der Rätsel, die sie birgt, zu verzichten. Andrerseits ist es aber gerade die Herrschaft der Erkenntnis in der Tugendlehre Sp.'s, welcher diese ihre Grösse und Bedeutung zu verdanken hat. Sie hebt die Tugend aus dem engsten Kreise, aus dem Schosse des Individuums, empor bis zu jener weltumfassenden Liebe, in der der Mensch sich eins fühlt mit Gott, mit dem ganzen All; sie giebt ihr jene über allem zeitlichen Wechsel erhabene ewige Ruhe, an der der Sturm der Leidenschaften, der Sturm der Freude und des Schmerzes, machtlos vorüberziehen muss; durch sie wird die Tugendlehre Sp.'s in Wahrheit zur Lehre von dem in dem Menschen geoffenbarten Wesen Gottes. Und wenn unter dem nagenden Zweifel eine Säule kindlicher Anschauung nach der andern zusammenbricht, wenn vor dem nimmer ruhenden Triebe nach Erkenntnis und Wahrheit das ganze Gebäude unseres sittlichen Lebens aus seinen Fugen zu gehen droht, da ist es Sp, der uns den Grund zeigt, auf dem sich von neuem unser sittliches Leben erheben kann, und Sp.'s Lehre, die uns in Wahrheit eine zweite Bibel wird. Kein überirdisches Wesen, kein geheimnisvolles „Du sollst", kein unbegreiflicher Instinkt führt zu der Tugend, die er uns lehrt: unsere eigene Erkenntnis, das natürliche Licht unserer Vernunft zeigt uns, wie unsere Tugend tief begründet ist in unserem Wesen, wie wir nicht mehr wir selbst sind, wenn wir nicht tugendhaft sind. Und mögen wir auch anfangs zurückbeben, wenn uns das, was wir bis dahin für das Verwerflichste gehalten, der Egoismus, als Grund aller Tugend gezeigt wird: wir wollten ja Erkenntnis und Wahrheit, und von dem mächtigen Gange der Ethik fortgerissen, schreiten wir fast willenlos weiter: da offenbart sich uns immer herrlicher unser eigenes Wesen, und immer mehr erkennen wir das Göttliche, das in uns wohnt, bis wir uns endlich vom Glanze der Ewigkeit umstrahlt und von der Liebe Gottes selbst durchglüht fühlen. Ihren eigentlich praktischen Wert und ihre höchste Weihe aber erhält die Tugendlehre Sp.'s erst dadurch, dass der Denker selbst uns in seinem Leben das leuchtendste Beispiel seiner [81] Lehre giebt. Zwar hat es auch für ihu, wie er selbst gesteht [7], eine Zeit gegeben, wo er sich nicht ganz von dem Geize, der Sinnenlust und der Ruhmsucht befreien konnte; aber von der brennenden Sehnsucht nach der Erkenntnis des höchsten Gutes, des ewigen Gottes getrieben, hat er diese Schwäche bald besiegt und eine sittliche Vollkommenheit sich errungen, wie sie wohl nur selten ein Mensch erreicht hat. Dieses Mannes Züge sind verklärt von jener ewigen Liebe Gottes. die er als das höchste Ziel der Tugend bezeichnet, und die Seligkeit, die er in dieser Liebe empfand, war für ihn wirklich der volle Sieg über die Leidenschaften. Kein Flecken haftet an seinem Charakter; die Hoheit und Reinheit seiner Seele haben auch seine Gegner nicht zu verdunkeln vermocht. Und nie können wir dieses Mannes Bild, wie es sich in seiner Lehre und seinem Leben zeigt, betrachten, ohne dass unsere eigene Seele geläutert und gereinigt würde und ein Hauch jener ewig heiteren Ruhe, die ihn selbst beherrschte, auch unsere Brust durchwehte.

 



[1] Eth. V, prop. 4, Schol.; cf. pg. 10 lt.
[2] cf. pg. 11
[3]  cf. Eth. IV, praef., pg. 331
[4]  Eth. I V, prop. 41, cf. pg. 33.
[5] Eth. 1V, prop. 4. Coroll;. cf. pgg. 50, 54, 67.
[6] Eth. V, prop. 33, Schol; cf. pg. 65.
[7] tract. de int. em. I 10




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