Metellus
Meyer, Die Tugendlehre Spinoza's. Dissertation
Universität Leipzig. Flensburg: J.B. Meyer, 1885 - 81 pagina's – archive.org - Hathitrust.org
Ik neem zijn
evaluatie hier over, daar het een uitdaging is te proberen zijn redenering te
volgen en zo mogelijk mee te voltrekken. Hij legt de vinger op een paar
moeilijke punten waar vaker mee geworsteld is. Meyer heeft echter ook duidelijk waardering
voor Spinoza.
[73] Kritik.
Die Kritik
der Tugendlehre Sp.'s, die wir hier zu geben versuchen, wird sich darauf zu
beschränken haben, die elementaren Widersprüche, in welche die Tugendlehre mit
ihren eigenen Voraussetzungen und Behauptungen zu geraten scheint, aufzudecken.
Die Tugend, die Sp.
lehrt, in Widerspruch mit dem Selbsterhaltungstrieb als ihrem Ursprung.
Kehren wir
mit Sp. bis dahin zurück, wo er uns die gemeinsame Geburtsstätte der Tugend oder
der handelnden Affekte und der Leidenschaften gezeigt hat „Denn man muss vor
allem festhalten, dass es ein und dasselbe Begehren ist, wonach der Mensch
sowohl als handelnd wie als leidend gilt.” [1]
Dieses Begehren ist, wie wir wissen, das Begehren, sich selbst zu erhalten, der
Selbsterhaltungstrieb; er ist die Quelle alles Handelns und alles Leidens. Wir
wissen nun ferner, dass in dem Streben jedes Dinges, in seinem Sein zu
verharren, das Wesen des Dinges selbst liegt.[2]
Ist also das Wesen eines Dinges frei und uneingeengt oder wird es nur
beeinflusst von solchen Dingen, die mit seiner Natur übereinstimmen, so ist
auch sein Beharrungsbegehren frei und [71] uneingeengt; nur ein freies Wesen
kann einen freien Selbsterhaltungstrieb haben. Wird aber das Wesen eines Dinges
bedrängt und beeinflusst von äusseren fremden Ursachen, so ist auch das
Beharrungsbegehren dieses Wesens bedrängt und beeinflusst; daraus folgt, dass
ein unfreies und beschränktes Wesen nur einen unfreien und beschränkten
Selbsterhaltungstrieb haben kann. Wie es freilich überhaupt zu einer gegenseitigen
Einschränkung der Dinge und so zum beschränkten Selbsterhaltungs-trieb kommt,
wenn doch jedes Ding ursprünglich nur in seinem eigenen Sein zu beharren
strebt, das hat uns Sp. nicht erklärt: es ist das ewige Rätsel vom Sündenfall,
von der Existenz des Irrtums, des Bösen und des Elends in der Welt, da ja bei
Sp. das gegenseitige Beeinflussen der Dinge die Ursache alles Wahns und alles
Leids und alles Bösen ist. Und wenn er den Wahn und alles, was ihm anhaftet,
selbst für Wahn, für etwas, was in Wahrheit nicht existirt, hält, so hebt er
damit, wie wir später noch genauer darlegen werden, die ganze Welt der Wirklichkeit
und zugleich seine eigene ganze Philosophie auf. Es ist nun an und für sich
klar, dass die Tugend, die ja ein Handeln ist und die Macht des Menschen
ausdrückt, nur aus dem freien Selbsterhaltungstriebe hervorgehen kann; denn aus
dem unfreien und beschränkten Selbsterhaltungstrieb kann immer nur ein Leiden
entspringen. Nun aber ist die Tugend als Macht des Menschen zu handeln nach der
Lehre der Ethik stets mit dem Affekt der Freude, mit einem Übergang von
geringerer zu grösserer Vollkommenheit verbunden; die Tugend bezeichnet
hiernach also eine immerwährende Wesenserhöhung. Als solche aber lässt sie sich
niemals mit dem freien Selbsterhaltungstrieb vereinigen, da die Tugend, die aus
ihm hervorgeht, gerade darin besteht, dass das Ding in seinem freien Sein und
Wesen beharrt. Sp. ist sich selbst dieses Konfliktes zwischen der Tugend als
Macht zu handeln und als Wesenserhöhung einerseits und der Bewahrung seines
Seins und der höchsten Vollkommenheit andererseits wenigstens bei Gott
einigermassen bewusst geworden, wenn er meint, im eigentlichen Sinne könne man
nicht von Gott sagen, er liebe die Menschen oder sich selbst und freue sich
seiner Vollkommenheit, weil Gott nicht vollkommener werden [72] könne, als er
schon sei. Und wenn er dennoch später mit so hoher Begeisterung von der Liebe
Gottes spricht, so müssen wir gestehen, dass hier nicht mehr die klare Sonne
des Denkens das stolze Gebäude der Etliik durchstrahlt, sondern geheimnisvoll
mystische Dunkelheit in seinen innersten und heiligsten Räumen webt.
Die Annahme
aber, dass die Tugend insofern den freien Selbsterhaltungstrieb zur Quelle
haben könne, als der von der Macht der Aussendinge bedrängte und den
Leidenschaften unterworfene Mensch, um zur Tugend zu gelangen, nur seinem
wahren Wesen zu folgen und nur dies wiederherzustellen brauche, bleibt schon
deshalb ausgeschlossen, weil nach unseren obigen Auseinandersetzungen ein
beschränktes und leidendes Wesen nie einen freien und unbeschränkten
Selbsterhaltungstrieb haben kann. Aber auch angenommen, ein anderer könnte ihm
sein wahres Wesen zeigen und so seinen Selbsterhaltungstrieb auf die Gewinnung
seines wahren Wesens hinlenken, so wäre doch das Wirken dieses Wesens noch
keine Tugend und kein Handeln, sondern, da es ja nach der Annahme unfrei und bedrängt
ist, ein Leiden; hier also würde das Wesen wohl den — ihm von einem anderen
oitenl)arten — Gesetzen des Selbst- erhaltungstriebes folgen, aber es hätte als
leidendes Wesen doch noch keine Tugend. Sobald aber der Punkt erreicht wäre, wo
das Wesen seine volle Macht und Tugend erlangt und seine wahre Natur selbst
erkannt hätte, so würde es von jetzt an wohl handelnd sein können, aber sein
Handeln Hesse sich, wie wir gesehen haben, nicht mit dem Selbsterhaltungstrieb
als dem Grund aller Tugend vereinigen. So müssen wir denn gestehen, dass die Tugend als Macht des Menschen zu handeln, die den Selbsterhaltungstrieb zum Ursprung hat, uns unmöglich scheint; sie ist, konsequent verfahren, ein toter Punkt, vor dem und hinter dem sich das ganze Leben des Menschen in der Zeit und in der Ewigkeit abspielen muss, ohne dass er jemals dauernd der Tugend teilhaftig werden könnte.
Die Tugend, die Sp.
lehrt, im Widerspruch mit der Erkenntnis als ihrem Prinzip; Keim dieses
Widerspruches in der Erkenntnis selbst.
Die Vernunft
und die aus ihr folgende Erkenntnis ist die eigentliche Herrscherin im Reiche
der spinozischen Tugend; sie giebt der Tugend, die Sp. uns lehrt, die wirklich
grossartige Majestät, die wir an ihr bewundern. Denn einmal macht die
Erkenntnis, die Tugend heraushebend aus dem engen Kreise der Menschen, dieselbe
zur Bürgerin des ganzen Reiches der Natur und ordnet sie damit deren Gesetzen,
der ewigen Notwendigkeit unter, mit der alles, was ist und geschieht, aus
Gottes Wesen folgt. Ferner aber entrückt die Erkenntnis sie dem Banne der Zeit
— denn für die Erkenntnis ist ja die Zeit nur ein Gebilde der Imagination — und
umgiebt sie schon auf Erden mit dem Glanze der Ewigkeit. Diesen doppelten
Charakter der Notwendigkeit und der Ewigkeit darf also die Tugend, welche die
Ethik lehrt, nie verletzen, wenn nicht zugleich damit die Stellung der
Vernunfterkenntnis als Princips der Tugend erschüttert werden soll. Wie verhält
sich nun die Tugendlehre Sp.'s zu dieser Forderung?
Was das
Verhältnis der Tugend zu der Erkenntnis der Notwendigkeit alles Seins und
Geschehens betrifft, so haben wir gesehen, wie Sp. die
Imaginationsvorstellungen, die nach seiner Lehre der wahren Erkenntnis
zuwiderlaufen, die Vorstellungen der Freiheit, des Zweckes, des Guten und
Schlechten u. a. mit ausdrücklichen Worten aus dem Reiche der Erkenntnis und
Tugend verweist und wiederholt erklärt, dass die Menschen, wenn sie frei, d. h.
tugendhaft, wären, diese Begriffe nie ge-bildet hätten. Um so wunderbarer muss
es uns erscheinen, wenn Sp. gleich darauf jenes Musterbild des Menschen und damit
den Begriff des Zweckes und die Begriffe von gut und schlecht ausdrücklich in
seine Tugendlehre einführt, ja sogar sie zu grundlegenden für seine Lehre
macht. Wie konnte er diese Begriffe für Wahngebilde erklären und fast im selben
Satze noch [3] [74] sie
an die Spitze seiner von der Vernunfterkenntnis beherrschten Tugendlehre
stellen? Wird damit nicht die Tugend aus ihrer eben gewonnenen Stellung im
Reiche der ganzen Natur wieder in den engen Kreis der Menschen hinabgezogen?
Wir müssen bekennen, dass Sp. sich eines gröberen Widerspruchs kaum schuldig
machen konnte. Sind die genannten Begriffe wirklich imaginäre, so muss uns die
Stellung der Vernunfterkenntnis als Princips der Tugend durchaus unmöglich
scheinen oder Sp.'s ganze Tugendlehre in sich zusammenfallen.
Um nur ein
Beispiel herauszugreifen, wenn Sp. sagt, „die Traurigkeit sei etwas
Schlechtes" [4], so
macht er sich, wenn er diesen Satz ausspricht, gerade dessen schuldig, was er
in diesem Setze als Verletzung der Tugend hinstellt. Denn Traurigkeit bei dem,
der die Erkenntnis besitzt, soll unmöglich sein; Traurigkeit aber bei anderen,
welche die Erkenntnis nicht besitzen, darf der, welcher die Erkenntnis besitzt,
nie für schlecht, sondern nur für notwendig und als in bezug auf das Ganze
überhaupt nicht existierend halten. Denn so weit er sie für schlecht hält,
folgt er der Imagination und unterliegt gerade dem Affekte, den er bei anderen
als Verletzung der Tugend tadelt; denn die Erkenntnis des Schlechten ist nichts
als die Vorstellung der Traurigkeit, die aus dem Affekt der Traurigkeit
notwendig folgt. — Der Einwurf, der Begriff des Schlechten sei nur als Gegenstück,
gleichsam als Schattenbild, zu dem Lichtbild des Guten entstanden, ist deshalb
wirkungslos, weil der Begriff des Guten als Wechselbegriff zu dem des
Schlechten selbst ein durchaus imaginärer ist.
Aber sind
die Begriffe des Schlechten und Guten und alle sie begleitenden Vorstellungen
wirklich imaginäre, und existiert für den, der die Vernunfterkenntnis hat, in
Wahrheit weder Schlechtes noch Gutes? — Es handelt sich darum, ob es wirklich
eine Imagination im Gegensatz zur Vernunfterkenntnis giebt: denn ist dies der
Fall, so giebt es wirklich etwas Unvollkomkommenes — denn die Imagination ist
ja eine unvollkommene Erkenntnis — im Gegensatz zum Vollkommenen, etwas
Schlechtes im Gegensatz zum Guten u. s. w. [75]
Nach Sp.'s
Lehre bezeichnet nun die Imagination nur ein Nichtseiendes an einem einzelnen
Wesen, wodurch die Vollkommenheit und Realität des Ganzen nicht im geringsten
gemindert oder geändert wird. Da aber die Vernunfterkenntnis alles nur in bezug
auf das Ganze im Lichte der ewigen Notwendigkeit betrachtet, so giebt es für
sie nach Sp.'s Lehre auch keinen Wahn, keine Imagination. Der Begriff der
Imagination ist also selbst ein imaginärer, der in bezug auf Gott und den
Menschen, der die Vernunfterkenntnis hat, nicht existiert.
Dass hiermit
die ganze Welt der Wirklichkeit, die Welt des Irrtums, der Sünde und des
Elends, in ein Traumgebilde aufgelöst wird, ist an sich klar ; aber auch die
Philosophie Sp.'s selbst, die den Begriff der Imagination in ihrem System doch
als Erkenntnisbegriff behandelt — wenn sie z. B die ganze Erkenntnis in die
drei Erkenntnisarten der Imagination, der schliessenden und der anschauenden
Vernunft teilt —auch sie muss bei dieser Auffassung der Imagination in sich
zusammenfallen.
Der Irrtum
Sp.'s liegt darin, dass er die Vernunft nicht in ihrer Doppelstellung erkannte:
einmal als diejenige, die den ganzen Kausalnexus sich vorstellt und zu der als
betrachtendem Subjekt alle Dinge als betrachtete Objekte in Beziehung treten
müssen, und zweitens als diejenige, die selbst ein Glied in der Kette des
Kausalnexus und selbst betrachtetes Objekt ist. Insofern nun die Vernunft oder ein
Vernunftwesen betrachtetes Objekt ist, wird ein Minus, eine Negation an ihm
allerdings ausgeglichen durch ein Plus in der übrigen Natur, und für den, der
alles nur in bezug auf das Ganze, auf Gott nach der Vernunfterkenntnis erkennen
könnte, existierte eine Negation — da diese ja nur an dem einzelnen Wesen
haftet — nicht. Insofern aber an der Vernunft als betrachtendem Subjekt eine
Negation, ein Nichtseiendes, wie es sich nach Sp.'s Lehre in der Imagination
ausdrückt, ist, so ist eben dies Nichtseiende eine wirkliche Verminderung der
Vernunft, und man kann hier nicht sagen, dass das Nichtseiende in bezug auf das
Ganze, wie die Vernunft es betrachte, nicht sei, weil die dem Ganzen als
Subjekt gegenüberstehende und alle Dinge auf sich beziehende Vernunft selbst es
ist, an der das Nichtseiende ist. Und sofern [76]-es wirklich etwas Nichtseiendes an der
Vernunft giebt, so giebt es auch wirklich eine unvollkommene Vernunft, eine
Imagination, im Gegensatze zu einer vollkommenen Vernunft, einer wahren
Erkenntnis, daher auch wirklich einen Zweck, aus der unvollkommenen zu der
vollkommenen Erkenntnis zu gelangen, und ebenso Dinge, die wirklich gut sind —
insofern sie unsere Erkenntnis und damit unsere Tugend fördern — und solche,
die wirklich schlecht sind — insofern sie die Imagination hervorrufen und uns
an der Tugend hindern. — Es ist unmöglich, dass die Vernunft die Dinge in bezug
auf das Ganze betrachtet, ohne dass sie sie zugleich in bezug auf sich selbst
betrachtet und in solche scheidet, die sie an der Betrachtung des Ganzen
hindern und in solche, die diese Betrachtung fördern, d. h. in wirklich
schlechte und wirklich gute.
So stehen
die genannten Begriffe, die Begriffe des Guten und Schlechten, des Zwecks und
damit die Vorstellung der Freiheit als Vernunftbegriffe dem Vernunftbegriff der
Notwendigkeit gegenüber und tragen in das Princip der Tugend, in die
Vernunfterkenntnis selbst einen Zwiespalt hinein, dessen Ausgleichung wir bei
Sp. vergebens suchen; daher auch das ungewisse Schwanken der Tugend, welche die
Ethik uns lehrt, zwischen ihrem rein menschlichen Charakter und dem Charakter,
den sie als Bürgerin des ganzen Reiches der Natur trägt.
Nicht
weniger unmöglich und unerklärt muss uns der Charakter der Ewigkeit der Tugend
in der Lehre Sp.'s neben ihrer zeitlichen Entwicklung erscheinen. Denn die
Tugend als Macht des Menschen zu handeln und als Freude besteht ja in einer
immerwährenden Wesenserhöhung, also in einer immer-währenden Entwicklung; ja,
ohne dass sich Körper und Geist der Kindheit allmählich entwickelten und ausreiften,
wäre überhaupt keine Tugend möglich. Der Begriff der Entwicklung lässt sich nun
nicht trennen von dem Begriffe der Zeit und Dauer: diese aber sind nach Sp.'s
Lehre Gebilde der Imagination und mit dem Princip der Tugend, der
Vernunfterkenntnis, die alles im Lichte der Ewigkeit schaut, unverträglich.
Denn die Ewigkeit ist, wie Sp. oft genug wiederholt, nicht etwa die Summe [77] unendlich
vieler Zeiten, sondern sie hat überhaupt nichts mit der Zeit und allem, woran
die Zeit haftet, zu thun.
Indessen,
während der Erkenntnisbegriff der Notwendigkeit in der Tugendlehre fast ganz
durch die nach Sp.'s Ansicht imaginären Begriffe der Freiheit, des Zwecks, des
Guten und Schlechten verdunkelt wird, ist es hier der Erkenntnisbegriff der
Ewigkeit, der seinerseits den Charakter der Tugend als Entwicklung nicht zum
Ausdruck kommen lässt, Daher hat uns Sp. auch nicht zu zeigen vermocht, wie wir
allmählich uns von den Leidenschaften befreien und die Tugend erlangen können;
denn wenn er uns als einzigen Weg, der zur Tugend führe, die Betrachtung der
allgemeinen Eigenschaften der Dinge bezeichnet, so setzt er voraus, dass wir
das schon besitzen, was wir erst erlangen wollen. Denn zu der Betrachtung der
allgemeinen Eigenschaften der Dinge wendet sich nur der, der im Besitze der
zweiten Erkenntnisart ist; wer aber diese besitzt, besitzt die Tugend. Zwar
scheint der unaufhörliche Kampf zwischen den Tugendaffekten und den
Leidenschaften und das ewige Streben, das selbst in der dritten Erkenntnisart
liegen soll, das Princip der Entwicklung wieder zum Durchbruch kommen zu
lassen, doch wir haben schon bei der Besprechung des Selbsterhaltungstriebes
als des Ursprungs der Tugend gesehen, wie dieses Streben und Kämpfen keine
Tugend sein kann; jetzt werden wir erkennen müssen, dass es überhaupt, so weit
es eine Entwicklung bezeichnet, sich nicht mit der ewigen Vollendung, die der
aus der Vernunfterkenntnis stammende Charakter der spinozischen Tugend ist,
vereinigen lässt, und dass dieses Kämpfen und Streben mit der Voraussetzung
eines unüberwindlichen Restes von Leidenschaften als ein Zugeständnis Sp.'s an
die Erfahrung angesehen werden muss, dessen Begründung in seiner Lehre durchaus
fehlt, ja das seinem ganzen auf die absolute Erkenntnisfähigkeit des Menschen
gegründeten System zuwiderläuft. Denn sind wir auch notwendig dem Einfluss der
Aussendinge ausgesetzt, so brauchten wir deshalb doch nicht notwendig dem
Einfluss der Leidenschaften zu unterliegen, weil wir die schädliche Wirkung des
Einflusses der Aussendinge, wie sie sich in den Leidenschatten zeigt, durch die
Erkenntnis, wenn die Fähig [78]keit des Menschen zu erkennen wirklich eine
absolute ist, bis auf den letzten Rest aufheben und zum Vorteil für unsere
Macht verwerten könnten. Wenn Sp. trotzdem wiederholt behauptet, dass wir nie
ganz uns von dem Einfluss der Leidenschaften befreien könnten und
"notwendig immer (necessario semper)[5]
von Leidenschaften beherrscht würden, so ist das ein Stoss, den er selbst gegen
die von ihm als absolut anerkannte im Menschen wohnende Verunufterkenntnis
führt, im letzten Grunde ein völliger Bruch mit seinem ganzen System. Denn sind
wir notwendig immer von Leidenschaften beherrscht, so sind wir auch notwendig
immer vom Wahn, von der Imagination beherrscht; eine Philosophie, die zu ihrem
Fundament die reine Erkenntnis bat, wie die Sp.'s, ist dann unmöglich.
Um jedoch zu
verstehen, wie Sp. diesen Konflikt zwischen zeitlicher Entwicklung und ewiger
Vollendung in seiner Tugendlehre fast ganz übersehen oder doch über ihn mit
wenigen und eigentlich nichtssagenden Worten hinweggehen konnte [6],
dürfen wir nicht ausser Acht lassen, dass der spinozische Begriff der
Entwicklung sich nicht mit dein gewöhnlichen deckt. Denn in dem Begriff der
Entwicklung, wie er gewöhnlich gefasst wird, liegt der Erwerb einer positiven
neuen Kraft oder Fähigkeit zu der alten, der spinozische aber bezeichnet nur
negativ das Weg-fallen einer alten Schranke von dem vollkommenen Wesen des
Menschen; bei jenem ist das Wesen unvollkommen und wird vollkommener, bei
diesem ist es an sich vollkommen und nur beschränkt von äusseren Dingen: das
Wegfallen dieser Schranken, dieser negative Process am Wesen des Menschen ist
das, was Sp. unter Entwicklung versteht.
Ist nun der
Begriff der Entwickelung, wie Sp. ihn fasst, wirklich ein imaginärer? — Der von
den Schranken umgebene Mensch erkennt allerdings --- das müssen wir einräumen —
nur imaginär; die Erkenntnis aber, dass er von diesen Schranken umgeben ist und
dass von verschiedenen Menschen der eine mehr, der andere weniger, und derselbe
Mensch zu verschiedenen Zeiten verschieden stark von diesen Schranken eingeengt
ist, [79] dass also eine Entwickelung stattfindet, diese Erkenntnis gehört doch
ins Reich der Vernunft; es müsste denn die Erkenntnis, dass es überhaupt eine
Imagination im Gegensatz zur Vernunfterkenntnis giebt, selbst eine imaginäre
sein, was, wie wir sahen, unmöglich ist.
So liegt
auch hier der Zwiespalt zwischen der Tugend als zeitlicher Entwicklung und
ihrem Princip als der Erkenntnis der ewigen Vollendung als Keim in dem Princip
der Tugend, in der Vernunfterkenntnis selbst, verborgen; denn es ist nach
unseren Ausführungen der Begriff der zeitlichen Entwickelung so gut wie der der
ewigen Vollendung ein Vernunftbegriff. Die Kluft, die diese beiden Begriffe in
die Vernunfterkenntnis hineinbringen, muss uns aber bei der gänzlichen
Verschiedenheit von Zeit und Ewigkeit unüberbrückbar erscheinen.
Und so lange
dieser doppelte Widerspruch von Zweck und Freiheit gegenüber der Notwendigkeit,
und der Ewigkeit gegen-über der Zeit, wie er im Schosse der Vernunfterkenntnis
selbst liegt, nicht gehoben ist, so lange bleibt, ganz abgesehen von dem dem
Systeme Sp.'s zuwiderlaufenden Eingeständnis, der Mensch werde notwendig immer
von Leidenschaften und damit vom Wahn beherrscht, die Stellung der Erkenntnis
wenigstens als alleinigen Princips der Tugend erschüttert; und das gleiche
Urteil muss das Streben nach dem eigenen Nutzen als alleiniges praktisches
Motiv der Tugend treffen, da es alleiniges Motiv der Tugend nur unter der Bedingung
sein kann, dass die Menschen die Fähigkeit des Erkennens voll und
widerspruchslos besitzen: denn nur in diesem Fall können sie wirklich ihren
wahren Nutzen erkennen.
Endurteil.
Trotz dieser
Mängel aber ist die Bedeutung und der Wert der Tugendlehre Sp.'s nicht hoch
genug zu schätzen. Denn ob auch durch die Erhebung der Erkenntnis zum Princip
der Tugend in die Tugendlehre des Philosophen Widersprüche gebracht sind, deren
Lösung bis auf den heutigen Tag nicht gelungen ist, [80] so hat sie doch selbst
in diesem Mangel noch das vor vielen anderen Moralsystemen voraus, dass sie uns
nicht selbst nötigt, auf die Ergründung der Rätsel, die sie birgt, zu
verzichten. Andrerseits ist es aber gerade die Herrschaft der Erkenntnis in der
Tugendlehre Sp.'s, welcher diese ihre Grösse und Bedeutung zu verdanken hat.
Sie hebt die Tugend aus dem engsten Kreise, aus dem Schosse des Individuums,
empor bis zu jener weltumfassenden Liebe, in der der Mensch sich eins fühlt mit
Gott, mit dem ganzen All; sie giebt ihr jene über allem zeitlichen Wechsel
erhabene ewige Ruhe, an der der Sturm der Leidenschaften, der Sturm der Freude
und des Schmerzes, machtlos vorüberziehen muss; durch sie wird die Tugendlehre
Sp.'s in Wahrheit zur Lehre von dem in dem Menschen geoffenbarten Wesen Gottes.
Und wenn unter dem nagenden Zweifel eine Säule kindlicher Anschauung nach der
andern zusammenbricht, wenn vor dem nimmer ruhenden Triebe nach Erkenntnis und
Wahrheit das ganze Gebäude unseres sittlichen Lebens aus seinen Fugen zu gehen
droht, da ist es Sp, der uns den Grund zeigt, auf dem sich von neuem unser
sittliches Leben erheben kann, und Sp.'s Lehre, die uns in Wahrheit eine zweite
Bibel wird. Kein überirdisches Wesen, kein geheimnisvolles „Du sollst",
kein unbegreiflicher Instinkt führt zu der Tugend, die er uns lehrt: unsere
eigene Erkenntnis, das natürliche Licht unserer Vernunft zeigt uns, wie unsere
Tugend tief begründet ist in unserem Wesen, wie wir nicht mehr wir selbst sind,
wenn wir nicht tugendhaft sind. Und mögen wir auch anfangs zurückbeben, wenn
uns das, was wir bis dahin für das Verwerflichste gehalten, der Egoismus, als Grund
aller Tugend gezeigt wird: wir wollten ja Erkenntnis und Wahrheit, und von dem
mächtigen Gange der Ethik fortgerissen, schreiten wir fast willenlos weiter: da
offenbart sich uns immer herrlicher unser eigenes Wesen, und immer mehr
erkennen wir das Göttliche, das in uns wohnt, bis wir uns endlich vom Glanze
der Ewigkeit umstrahlt und von der Liebe Gottes selbst durchglüht fühlen. Ihren
eigentlich praktischen Wert und ihre höchste Weihe aber erhält die Tugendlehre
Sp.'s erst dadurch, dass der Denker selbst uns in seinem Leben das leuchtendste
Beispiel seiner [81] Lehre giebt. Zwar hat es auch für ihu, wie er selbst
gesteht [7],
eine Zeit gegeben, wo er sich nicht ganz von dem Geize, der Sinnenlust und der
Ruhmsucht befreien konnte; aber von der brennenden Sehnsucht nach der
Erkenntnis des höchsten Gutes, des ewigen Gottes getrieben, hat er diese
Schwäche bald besiegt und eine sittliche Vollkommenheit sich errungen, wie sie
wohl nur selten ein Mensch erreicht hat. Dieses Mannes Züge sind verklärt von
jener ewigen Liebe Gottes. die er als das höchste Ziel der Tugend bezeichnet,
und die Seligkeit, die er in dieser Liebe empfand, war für ihn wirklich der
volle Sieg über die Leidenschaften. Kein Flecken haftet an seinem Charakter;
die Hoheit und Reinheit seiner Seele haben auch seine Gegner nicht zu
verdunkeln vermocht. Und nie können wir dieses Mannes Bild, wie es sich in seiner
Lehre und seinem Leben zeigt, betrachten, ohne dass unsere eigene Seele
geläutert und gereinigt würde und ein Hauch jener ewig heiteren Ruhe, die ihn
selbst beherrschte, auch unsere Brust durchwehte.
[1] Eth. V, prop. 4, Schol.; cf. pg. 10 lt.
[2] cf. pg. 11
[3] cf. Eth. IV, praef., pg. 331
[4] Eth. I V, prop. 41, cf. pg. 33.
[5] Eth. 1V,
prop. 4. Coroll;. cf. pgg. 50, 54, 67.
[6] Eth. V,
prop. 33, Schol; cf. pg. 65.
[7] tract.
de int. em. I 10
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